Kopfschmerzen - Hilft Physiotherapie bei Migräne, Spannungskopfschmerz & anderen Kopfschmerzarten und welche Rolle spielt die Halswirbelsäule?
- Sebastian Löscher
- 18. Okt. 2024
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Okt. 2024
Kopfschmerzen sind eine fiese Sache. Während wir uns bei Rückenschmerzen häufig mit Bewegung, Dehnen oder verschiedenen Ruhepositionen selbst helfen können, sind Kopfschmerzen nicht selten einfach da und rauben uns gefühlt jeden klaren Gedanken.
In diesem Blogbeitrag möchte ich zum Einen theoretische Grundlagen zu Migräne, Spannungskopfschmerzen und co. ansprechen, zum Anderen die Möglichkeiten der Physiotherapie bei Kopfschmerzen sowie kleine Tipps zur ersten Hilfe vorstellen. Der Blog unterteilt sich dafür in folgende Abschnitte:

Grundlagen von Kopfschmerzen
Eine Sache, die mir in meiner Praxis für Physiotherapie in Speyer auffällt, ist, dass sich Patienten häufig selbst eine Migräne diagnostizieren oder ohne konkrete Untersuchung diagnostiziert wurden. Dabei gibt es festgelegte Kriterien, um verschiedene Kopfschmerzarten voneinander unterscheiden zu können. Diese werden von der IHS, der internationalen Kopfschmerzgesellschaft (International Headache Society) aufgrund internationaler Forschungsergebnisse definiert. Eine interessante Einstiegsfrage ist hier: wie viele Arten von Kopfschmerzen gibt es eigentlich? Ich bin gespannt auf eure Antworten.
Wie viele verschiedene Arten von Kopfschmerzen gibt es?
Ca. 50 verschiedene Kopfschmerzarten
Ca. 150 verschiedene Kopfschmerzarten
Ca. 250 verschiedene Kopfschmerzarten
über 350 verschiedene Kopfschmerzarten
Bei dieser Menge an verschiedenen Kopfschmerzformen (siehe auch [1]) ist eine gute und ausführliche Anamnese essentiell, um den Kopfschmerz richtig einordnen zu können. Zudem besteht die Möglichkeit, dass sich verschiedene Kopfschmerz Arten gegenseitig beeinflussen. So wird beispielsweise vermutet, dass der Nacken (speziell der Bereich der oberen Kopfgelenke) ein möglicher Trigger für eine Migräne sein kann [2].
Im Rahmen dieses Blogs würde eine vollständige Auflistung aller Kopfschmerzarten sowie die Beschreibung aller möglichen Mechanismen den Rahmen sprengen und die Lesezeit auf Tage hinausziehen. Daher möchte ich drei der häufigsten Kopfschmerzarten ansprechen, die in meiner täglichen Praxis vorkommen: Migräne, Spannungskopfschmerzen und zervikogene Kopfschmerzen (= Kopfschmerzen, die durch die Halswirbelsäule ausgelöst werden).
Migräne
Selbst bei Migräne finden wir knapp 30 verschiedene Varianten mit unterschiedlicher Symptomausprägung [1]. Ein Beispiel hierfür ist der Migränekopfschmerz, der mit oder ohne Aura auftreten kann. Auren sind neurologische Symptome, die sich durch visuelle Reize wie Flimmern oder sich ausbreitende Lichtpunkte im Sichtfeld bemerkbar machen. In einigen Fällen tritt auch nur die Aura auf, ohne dass der typische Kopfschmerz folgt. Migräne äußert sich häufig durch einen einseitigen pulsierenden Kopfschmerz (bei Kindern häufiger beidseitig), der zwischen 4 - 72 Stunden anhält. Dabei treten ebenso häufig die bekannten Begleitsymptome wie Übelkeit mit teilweise Erbrechen sowie Licht- und Geräuschempfindlichkeit auf. Ein besonderes Merkmal der Migräne ist die Verschlechterung durch Aktivität. Wenn wir also abends mal einen einseitigen Kopfschmerz haben, den wir durch einen kleinen Spaziergang „weglaufen“ können, dann war es sehr wahrscheinlich keine Migräne.
Was genau die Schmerzen einer Migräne auslöst, ist nicht abschließend geklärt, jedoch gibt es einige Mechanismen, die man mit der Migräne in Zusammenhang bringen kann.
So wird beispielsweise bei der Migräneattacke die Ausschüttung von Neurotransmittern (für die die es genau wissen wollen: vor allem das Neuropeptid Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP)) im Bereich der hirnversorgenden Gefäße sowie der Hirnhäute beobachtet. Hierdurchkommt es zur Gefäßerweiterung, der weiteren Ausschüttung von Neurotransmittern und kleinen entzündlichen Prozessen an diesen Strukturen.
Spannungskopfschmerz
Anders als der Name es vermuten lässt, entstehen diese Kopfschmerzen nicht durch Verspannungen. Die ursprünglich englische Bezeichnung "tension-type headache" wurde nicht komplett übersetzt. Das Wort "type" deutet den subjektiven, “spannungsartigen” Charakter der Kopfschmerzen an. Diese Form des Kopfschmerzes gilt als häufigste Kopfschmerzart und viele kennen ihn selbst als diesen dumpf dröhnenden, den gesamten Kopf umgebenden Kopfschmerz, der nicht unbedingt sonderlich stark ist, aber jeden klaren Gedanken stört [3]. Dieser Kopfschmerz wird durch Aktivität in der Regel nicht schlechter.
Zervikogener Kopfschmerz
(durch die Halswirbelsäule bedingter Kopfschmerz)
Ich möchte einen kurzen Vergleich anstellen, um darzustellen, wie der Nacken bzw. die Halswirbelsäule für Kopfschmerzen verantwortlich sein kann. Viele haben sicherlich schon mal gehört, dass Betroffene bei einem Herzinfarkt ebenso Bauch-, Arm- oder Kieferschmerzen haben können. Nur sind weder Bauch, Arm oder der Kiefer wirklich betroffen. Das Gehirn erhält Informationen aus dem Bereich des Herzens und sorgt fälschlicherweise für ein Schmerzerleben in Regionen, die eigentlich nicht weh tun müssten.
Das gleiche Prinzip können wir auch auf die Halswirbelsäule bzw. den Nacken übertragen. Strukturen, die im Bereich des Nackens liegen, sowie Strukturen des Kopfes senden jeweils Informationen über Nerven an das Gehirn. Diese Informationswege laufen unterwegs allerdings zusammen und werden gemeinsam an das Gehirn weitergegeben.
Man kann sich das auch so vorstellen: in einem Haus stehen alle Fenster offen. Du bemerkst plötzlich eine Wespe, kannst sie aber schnell vertreiben. Jetzt möchtest du präventiv dafür sorgen, dass das nicht mehr passiert und leitest ein „Schutzprogramm“ ein: du beginnst die Fenster zu schließen, je mehr Fenster geschlossen sind, desto größer der Schutz.
Übersetzen wir diese Metapher ins Medizinische: der Körper (das Haus) kann durch verschiedene Strukturen (Fenster) Reize empfangen (Luft, Wärme, Gerüche, die Wespe). Das Gehirn (du) nimmst die Reize wahr und entscheidest, wie mit den eingehenden Informationen umgegangen werden soll. Ist ein potentiell gefährlicher Reiz dabei (die Wespe), leitet das Gehirn (du) eine Schutzreaktion ein (Fenster schließen). Das kann zum Beispiel eine Schonhaltung, eine Bewegung, die Ausschüttung von Enzymen, eine Immunreaktion oder eben auch Schmerz sein. Da allerdings verschiedene Strukturen unseres Körpers über sich überschneidende Nervenbahnen Informationen ans Gehirn leiten, kann die Schutzreaktion größer sein als unbedingt notwendig (es werden auch Fenster geschlossen, durch die gar keine Wespe gekommen ist).
Dies kann zu Schmerzen an Stellen führen, an denen eigentlich gar kein Problem vorliegt. Dieses Phänomen wird auch als „referred pain" oder auch „weitergeleiteter Schmerz“ (früher: pseudoradikulärer Schmerz) bezeichnet [4].
Es ist bekannt, dass die Halswirbelsäule einen solchen „weitergeleiteten Schmerz“ im Bereich des Kopfes verursachen kann [5]. Dieser Kopfschmerz ist in der Regel einseitig, wechselt nicht die Seite und steht häufig im Zusammenhang mit Auffälligkeiten im Bereich der Halswirbelsäule. Diese Auffälligkeiten können zum Beispiel Schmerzen im Bereich des Nackens oder auch Bewegungseinschränkungen der Halswirbelsäule (besonders Drehbewegungen) sein. Häufig findet man in der nahen Vergangenheit auch einen Zusammenhang zwischen dem Beginn der Kopfschmerzen und einer Veränderung für den Nacken (längere statische Positionen z.B. in Klausurphasen, Schleudertraumata, plötzliche Belastungssteigerungen wie z.B. bei einem Umzug oder beim Decke streichen, längere körperliche Unterforderung der Arme und des Nackens).
Ansätze der Physiotherapie bei Kopfschmerzen
Insgesamt sollte man immer kurzfristige von langfristigen Maßnahmen unterscheiden. Während bei einer akuten Migräneattacke Bewegung eher schmerzverstärkend wirkt, scheint Ausdauertraining ansonsten langfristig präventiv auf die Anzahl der Kopfschmerztage, deren Intensität sowie die Dauer der Attacken zu wirken [6].
In der Akutsituation scheint bei Migräne nach wie vor die Verwendung von Medikamenten (nicht-steroidalen Antirheumatika wie Ibuprofen, Diclophenac, Paracetamol oder Migränetabletten auf Triptan-Basis) empfohlen zu sein.
Langfristig scheinen Entspannungstechniken (z.B. progressive Muskelrelaxation nach Jacobson) sowie aerobes Ausdauertraining wichtige Komponenten bei der Therapie der Migräne darzustellen. Beim Ausdauertraining kann man sich an einer Grundbewegungsart orientieren (z.B. Laufen, Radfahren, Schwimmen) und führt diese in einem realistischen Umfang, anfangs evtl. 15-20 Minuten, später 30-40 Minuten, täglich durch. Um im aeroben Bereich zu bleiben, kann man darauf achten, dass man das Gefühl hat, sich jederzeit unterhalten zu können, ohne dabei nach Luft zu hecheln.
Zusätzlich können Betroffene auf mögliche Trigger wie Schlafmangel, bestimmte Lebensmittel oder auch sonstige Beschwerden (zum Beispiel beginnende Nackenschmerzen) achten und selbstreflektiert erörtern, wie diese eine Migräneattacke evtl. begünstigen können. Der Effekt der manuellen Therapie der Halswirbelsäule ist bei der Migräne noch umstritten, könnte aber bei Betroffenen, die an Nacken + Migräne Schmerzen leiden, evt. die Symptome lindern.
Beim Kopfschmerz vom Spannungstyp ist die sichere Studienlage aktuell eher dünn angesiedelt, was die klassischen physiotherapeutischen Behandlungsansätze angeht. Insgesamt scheinen multimodale Schmerztherapien hier erfolgversprechender als einzelne Interventionen zu sein [7]. Hier wäre die vorherige Planung mit dem betreuenden Arzt wichtig, um eine solche Therapie einzuleiten.
Bei zervikogenen Kopfschmerzen scheint die Behandlung des Nackens durch manuelle Techniken, Übungen (Kraft- sowie Stabilisationstraining) sowie Eigenmobilisationen erfolgversprechend zu sein. Zudem könnten diese Maßnahmen Trigger anderer Kopfschmerzarten reduzieren. In der Regel kann der Therapeut in der Untersuchung Einschränkungen im Bereich des Nackens feststellen, gelegentlich den Kopfschmerz durch die Untersuchung auch kurzfristig reproduzieren und die Beschwerden durch die Nackenbehandlung verbessern.
Selbsthilfe bei Kopfschmerzen
Bei Kopfschmerzen gibt es keine goldene Technik oder Maßnahme, die grundsätzlich allen hilft. Es gibt allerdings Ausgangssituationen, die die Kopfschmerzhäufigkeit sowie Intensität begünstigen können. Schlafmangel beispielsweise, kann die Sensibilität unseres Körpers negativ beeinflussen (wieder metaphorisch: wir suchen dann im Haus nicht nur mit 2 Augen nach der Wespe, sondern mit 6 Augen + Wärmebildkamera etc.). Daher scheint ein regelmäßiger Schlafrhythmus empfehlenswert.
Ebenso kann man auf stressige Spitzenbelastungen (z.B. Multitasking) achten und bestmöglich versuchen, adäquate Kurzpausen einzulegen. Diese kann man mit einem körperlichen Achtsamkeitsprogramm belegen, wie beispielsweise der 3-2-1 Methode (offiziell 5-4-3-2-1 aber lasst uns mal entspannt starten): nenne 3 Sachen die du hörst, 2 Sachen die du riechst und eine Sache die du schmeckst. Dieser Körperscan kann dir in einer stressigen Phase kurzfristig helfen, Entspannung zu finden, indem du den gedanklichen Fokus weg von den Stressoren (z.B. bei der Arbeit) lenken kannst.
Zudem ist die körperliche Fitness (unabhängig der Sportart) eine wichtige Komponente, um den eigenen Körper stressresistenter zu machen und das Wohlbefinden zu steigern.
Zusätzlich können einfache Kräftigungsübungen der Nackenmuskulatur helfen, mögliche Halswirbelsäulen bedingte Störfaktoren zu therapieren.
Hier sind 3 beispielhafte Übungen, die auch in meiner Praxis für Physiotherapie immer mal wieder zur Anwendung kommen:
Ich wünsche damit viel Erfolg beim Ausprobieren und hoffe, ihr konntet die ein oder andere nützliche Info für euch mitnehmen.
Quellen:
[3] May A. Hints on Diagnosing and Treating Headache. Dtsch. Arzteblatt Int. 2018; 115:299–308
[5] Bogduk, N, Govind, J. Cervicogenic headache: An assessment of the evidence on clinical diagnosis, invasive tests and treatment. Lancet Neurol 2009; 8:(10) 959-968
[6] Krøll LS, Hammarlund CS, Linde M et al. The effects of aerobic exercise for persons with migraine and co-existing tension-type headache and neck pain. A randomized, controlled, clinical trial. Cephalalgia 2018; 38: 1805–1816
[7] Gaul C., van Doorn C., Webering N., Dlugaj M., Katsarava Z., Diener H.-C., Fritsche G. (2011) Clinical outcome of a headache specific multidisciplinary treatment program and adherence to treatment recommendations in a tertiary headache center. An observational study. The Journal of Headache and Pain;12:475–83
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