Blockiert, rausgesprungen, verschoben oder ausgerenkt - Was machen unsere Wirbel da eigentlich?
- Sebastian Löscher
- 14. Jan. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Okt. 2024
Ich erinnere mich noch gut an meine Schulzeit und die Holzstühle, auf denen wir damals die meiste Zeit sitzen mussten. Nach einer gewissen Zeit gab es nichts Besseres, als sich nach hinten über die Stuhllehne zu strecken bis die Wirbel anfingen zu knacken. Dann noch den Kopf in eine Richtung geneigt und mit der Hand nachgedrückt, damit auch der Nacken noch Geräusche von sich gab.
Die Lehrer und Eltern ermahnten uns dann immer, dass das nicht gut für die Gelenke sei und wir damit aufhören sollten.
Aber weshalb sollte ich mit etwas aufhören, dass mir erstmal gut tat? Und was passiert da eigentlich, wenn die Wirbelsäule knackt? Man hat immer von „einrenken“ gesprochen, was impliziert das vorher etwas „ausgerenkt“ sein musste. Als Physiotherapeut und Therapeut für manuelle Therapie beschäftige ich mich schon länger mit diesem Thema und möchte hier gerne über ein paar der Mythen aufklären.
Dafür gliedere ich diesen Blog zum Thema Knacken der Gelenke in folgende 4 Unterpunkte:

Was passiert da eigentlich (nicht)?
Wie schon beschrieben wurde durch das Wort einrenken gleichzeitig vermittelt, das etwas ausgerenkt gewesen sein muss. In einer Befragung [1] vermuteten die meisten Teilnehmer, dass das Knacken durch eine Repositionierung, also einem Zurechtrücken der Wirbel zustande kommen würde. Das wäre allerdings ungünstig, da innerhalb unserer Wirbel (durch den sogenannten Wirbelkanal) unser Rückenmark verläuft. Verschiebungen der Wirbel würden da zu Lähmungserscheinungen führen und es wäre hoch problematisch wenn wir einfach mal so unsere Wirbel ver- und wieder zurechtrücken könnten.
In einer mittlerweile älteren Untersuchung aus dem Jahr 1998 [2] konnte man zeigen, dass sich Menschen mit Rückenschmerzen nach einer Manipulation (der medizinische Begriff für ein „Einrenk-Manöver) besser fühlen, die Stellung der Wirbelsäule sich allerdings nicht veränderte.
Oder kurz gesagt: Manipulieren (einrenken) kann helfen, aber nicht weil Wirbel zurechtgerückt werden.
Was passiert da eigentlich (wahrscheinlich)?
Bereits 1971 hat man mit einem Röntgengerät untersucht, was im Moment des Knackens im Gelenk passiert [3]. Es wurde anhand von Fingergelenken gezeigt, dass sich durch ein schnelles Auseinanderbewegen von Gelenkflächen eine Gasblase aus der Gelenkschmiere bildet. Dieses Phänomen wird auch als Tribonucleation bezeichnet und kann durch die Raschen Druckveränderungen zu besagtem Geräusch führen. Um es etwas alltagsverständlicher zu machen, hier ein kleines Experiment:
Wenn du das nächste Mal duschst, presse deine nasse flache Hand auf dein Ohr und ziehe sie schnell wieder weg. Das wird ebenso zu einer Geräuschbildung führen. Oder falls du nicht bis zum nächsten Duschen warten möchtest, ein Beispiel das sicherlich viele kennen: Wenn man einen Pömpel an den Boden ansaugt und schnell wieder löst, entsteht ebenfalls ein Geräusch. Führt man das in keinem großen Raum sondern in einem engen Raum (entsprechend der Gelenkkapsel) durch, wirkt das Geräusch knallender.
Wer es dann doch wieder medizinischer mag, kann sich gerne dieses Video anschauen in dem man diese Gasbläschenbildung sehen kann:
Bei einer Manipulation der Wirbelsäule, werden wie beim Finger ebenso Gelenkflächen abrupt separiert [4]. Es wird also davon ausgegangen, dass dieses Knacken durch eine Bildung von Gasbläschen (welche übrigens unmittelbar nach ihrer Entstehung wieder zerfallen) und nicht durch eine Verschiebung der Knochen zustande kommt.
Ist das Knacken langfristig gefährlich?
Ich denke die Meisten kennen die alten Weisheiten:
„das Knacken ist nicht gut für die Gelenke“
„Davon bekommst du später mal Arthrose“
„Damit leierst du deine Gelenke aus“
Dazu gibt es einen spannenden Selbstversuch des Kanadiers Donald Unger den er 1998 publiziert hat [5]. Herr Unger hat die Finger seiner linken Hand 2x täglich Knacken lassen. Das Ganze dann übrigens für 50 Jahre. Während er die Finger der linken Hand also mindestens 36.500 Mal knacken lies, wurde das mit der rechten Hand nur sehr selten und spontan durchgeführt. Sein Fazit nach diesem Selbstversuch: 50 Jahre Fingerknacken führten nicht zu Arthrose in den Fingergelenken.
Schaut man sich das nochmal in einer größeren Kohorte unter wissenschaftlicheren Bedingungen an [6], kommt man allerdings zum selben Ergebnis: die alten Weisheiten geben nicht viel her, es gibt keinen Nachweis dafür dass das Knacken zu Arthrose, Gicht oder zum Ausleiern führt.
Ein wichtiger Punkt hier ist jedoch, dass sich diese Ergebnisse auf das selbstausgeführte Knacken an den Fingern beziehen. Sie sind also zum Beispiel nicht direkt auf eine fremdgesteuerte/therapeutische Manipulation an der Wirbelsäule übertragbar. Für die Wirbelsäule liegen in diesem Bereich aktuell tatsächlich keine Langzeitdaten vor, um diese Punkte mit Sicherheit zu beantworten.
Da man bei der selbstausgeführten Manipulation eine höhere Grundspannung der umgebenden Muskulatur aufbaut (es fehlt der Überraschungseffekt und durch die Eigenbewegung entwickelt man mehr Spannung), ist der Schutzmechanismus des Körpers allerdings aktiv genug um eine Verletzung zu vermeiden.
Das Einrenken durch eine andere Person sollte nur nach einer ausführlichen Untersuchung und dem Abwägen von Risiko und Nutzen durchgeführt werden!
Wer darf eigentlich einrenken?
Als Physiotherapeut werde ich von meinen Patienten in meiner Praxis häufiger gefragt, wer einen eigentlich einrenken darf. Da hier die Begriffe und die Rechtssprechung etwas komplizierter sind, möchte ich kurz vorab ein paar Begrifflichkeit klären:
Chiropraktor: Haben ein Vollzeitstudium (mind. 4 Jahre an einer Uni) im Bereich der Chiropraktiker absolviert. Da die Chiropraktik in Deutschland nicht als eigenständiger Heilberuf anerkannt ist, benötigen die Chiropraktoren eine zusätzliche Anerkennung als Heilpraktiker.
Chirotherapeut: Chirotherapeuten sind Ärzte, die eine zusätzliche Weiterbildung in der Chiropraktik besucht haben.
Chiropraktiker: Das sind Heilpraktiker, die zusätzliche Kurse im Bereich der Chiropraktik absolviert haben.
In Deutschland dürfen Ärzte mit Weiterbildung in manueller Medizin, Chiropraktoren, Chirotherapeuten und Chiropraktiker manipulieren bzw. einrenken. Die Frage "Dürfen Physiotherapeuten einrenken?" ist nicht mir einem klaren ja oder nein zu beantworten. Die Behandlung gesetzlich Versicherter auf Basis eines gesetzlichen Heilmittel-Rezeptes verbietet die Anwendung manipulativer Impulstechniken, verbietet also das Einrenken (siehe auch Bundesrahmenvertrag Physiotherapie, Anlage 1, Definition Manuelle Therapie).
Anders sieht es im Falle von Privatpatienten sowie gesetzlich Versicherten die bei einem (sektoralen) Heilpraktiker in physiotherapeutischer Behandlung sind aus. In diesem Fall gibt es keine gesetzliche Grundlage, die das Einrenken/Manipulieren durch einen Physiotherapeuten verbietet. Dennoch sollte der Therapeut eine entsprechende zusätzliche Weiterbildung, wie beispielsweise die international anerkannte OMT Weiterbildung, absolviert haben, um eine entsprechende Expertise vorweisen zu können.
Was bedeutet das jetzt für mich?
Das eigenständige Einrenken führt sehr wahrscheinlich zu keinen langfristigen körperlichen Schäden, so wie es früher gerne behauptet wurde. Es verrutschen auch nicht einfach so
Wirbel die wieder zurechtgerückt werden müssen, das Knackgeräusch entsteht durch die Bildung von Gasbläschen. Daher ist es kein Problem, wenn man sich bei Schmerzen mit einem eigenen Einrenkmanöver gelegentlich selbst zu helfen weiß.
Wenn die Beschwerden allerdings immer wiederkehrend sind und das eigene Einrenken nicht wirklich weiterhilft, sollte man eventuell mal etwas Anderes versuchen oder Hilfe bei einer entsprechenden medizinischen Stelle suchen.
Wenn man selbst das Gefühl hat, dass sich etwas blockiert anfühlt und "eingerenkt" werden müsste, sollte man sich entsprechend qualifizierte Hilfe suchen. Durch meine OMT Weiterbildung und als sektoraler Heilpraktiker kann ich Sie gerne zu dem Thema beraten.
Quellen:
Tolle, kurzweilige Zusammenfassung! Da kann man einiges mitnehmen! 😊
wow! Das war super lehrreich! Danke, dass du (auch bei mir!) mit diesen Mythen aufgeräumt hast!